Soziale Lage der Arbeiter
Bürgerrechte und Einwohnerzahlen
Harburgs Stadtwerdung im 19. Jahrhundert profitierte vom Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung. Das Harburger Ortstatut wurde im November 1852 in Kraft gesetzt. Dieses brachte, nachdem infolge des Gerichtsverfassungsgesetztes von 1850 die Justiz von der Verwaltung getrennt worden war, eine neue Magistratsverfassung. Sie gab den Bürgervorstehern beachtlichen Einfluss in der Magistratswahl und beließ Bürgermeister und Syndikus, sowie den Kämmerer, lebenslang im Amt. Seit ebenfalls 1852 hatte jeder Einwohner die Möglichkeit, das Bürgerrecht in Harburg zu erwerben.
„Magistrat und Bürgervorsteher konnten jedoch, durch Regulierung der Aufnahmegebühren allgemein und durch den Zulassungsentscheid für Bürger und minder wertvolles Einwohnerrecht im Einzelfall- eingrenzend wirken.“
Damit wurden einige Niederlassungswünsche, zum Schutz angeblich bereits überlasteter Berufsgruppen, oder um den unwillkommenen Zufluss potentieller Armuts- oder Unruheelemente fernzuhalten, abgelehnt.
Die Einwohnerzahlen Harburgs stiegen trotzdem kontinuierlich an.
1848 lebten 5255 Menschen in Harburg, 1858 waren es schon 10744 und 1861 war die Einwohnerzahl auf rund 12000 Bewohner angestiegen. Wieder zehn Jahre später, 1871, lebten in Harburg 16500 Menschen und 1889 schon rund 30000 Leute. Zur Jahrhundertwende 1900 war die Bevölkerungszahl auf 49150 angestiegen. In 52 Jahren hat sich die Bevölkerung Harburgs also verzehnfacht.
Wohnen
Die Zahl der Häuser in Harburg wuchs nicht mit der Zahl der Bevölkerung an. Die Zahlen der Menschen, die in einem Haus zusammenwohnten, stieg dafür umso mehr an. 1848 gab es durchschnittlich 8,5 Bewohner pro Haus, 1858 waren es schon 12,2 Menschen, die zusammenlebten. Diese Steigerung war wesentlich auf die Vergrößerung der Haushalte, durch die Aufnahme lediger Arbeiter zurückzuführen. Außerdem nahm die Zahl der Kinder stark zu. Die zweite starke Verbreiterung des Wohnungsbedarfs trat am Anfang der 80er Jahre in Erscheinung. In dem Zeitraum von 1880 bis 1890 entstanden insgesamt 17 neue Fabriken in Harburg, was den Bedarf an Arbeitskräften und damit an Wohnraum erklärt.
Viele Arbeiter zogen aus den ländlichen Gebieten nach Harburg, ohne dass genügend Wohnraum zur Verfügung stand. Sie lebten häufig in dunklen, feuchten und schlecht belüfteten Kellerräumen. „Wie aus Magistratsakten hervorgeht, wohnten noch 1898 in 379 Kellerwohnungen 1520 Personen, also mehr als 3% der Gesamtbevölkerung.“ Ledige Arbeiter, ohne eigenen Hausstand, mussten in großer Enge wohnen und sich auswärts verpflegen, wofür sie überhöhte Preise zahlen mussten.
„Das Harburger Stadtparlament tat 1892 die Arbeiterwohnfrage mit dem Hinweis eines Bürgervorstehers ab, dass er noch zwei Kellerwohnungen frei hätte. Solange die nicht besetzt seien, könne nicht von Wohnungsbedarf gesprochen werden.“ 1897 gab es ca. 80 Obdachlose in Harburg, die notdürftig in Schulgebäuden untergebracht wurden. Anstöße, um die Situation zu verbessern, kamen von außen. So sah das Regierungspräsidium Lüneburg, nach Besichtigung von Arbeiterwohnungen, die Lage als bedenklich an. Aber der Magistrat handelte zögerlich. Vermieter von durch Schließung bedrohten Kellerwohnungen und licht- und luftlosen Räumen wollten „nicht begreifen (…), dass der Vorteil, den sie (…) in Folge der industriellen Entwicklung der letzten Jahre gehabt haben, kein dauernder bleiben soll.“ Die Wohnungslage blieb unverändert schlecht bis ins 20. Jahrhundert hinein.
„1901 wollten preußische Minister in den Industriebezirken herrschende Missstände im Wohnungswesen der minderbemittelten Klassen aus gesundheitlichen, sozialem und sittlichem Interesse beseitigen. Auf Anfrage antwortete der Harburger Magistrat, dass Missstände teilweise beobachtet worden seien, es aber keinen Mangel an kleinen, gesunden Wohnungen gäbe.“ Bei den Wohnhäusern herrschte in Harburg der Typ der Häuser mit 6 bis 8 Wohnungen vor. Die Mehrheit der Bewohner besaß ein heizbares Zimmer, Küche und Kammer. Die Nähe Hamburgs hatte Einfluss auf die Mietpreise in Harburg. Ende des 19. Jahrhunderts kostete ein Raum mit Küche 151 Mark und zwei Räume mit Küche schon 225 Mark pro Jahr. Ledige zahlten durchschnittlich 200 Mark für eine Wohnung pro Jahr, Verheiratet gaben 250 Mark aus.
Arbeiten und Löhne
Der Bedarf an Arbeitskräften in Harburg war groß. Allerdings wurden zu Anfang der Industrialisierung hauptsächlich ungelernte Arbeitskräfte gesucht, da es auf die Masse und Billigkeit der Arbeiter ankam. Harburg nahm zum Teil überschüssige Landbevölkerung auf und bei Bedarf griff die Industrie auf Tagelöhner zurück, die bei schlechter Konjunktur sofort wieder entlassen werden konnten. Die Zahl, der in der Industrie beschäftigten Personen, betrug 1861 1627 Personen. Darunter befanden sich 1221 Arbeiter und 256 Arbeiterinnen. Die Lehrlinge und Gehilfen sind hier nicht mitgezählt. Von den 1627 Arbeitern, befanden sich alleine 795 in der Harburger Gummiwarenindustrie.
Bödecker beschreibt die Lohnverhältnisse wie folgend: „Hinsichtlich der Arbeitszeit- und Lohnverhältnisse ist aus der Frühzeit der Industrialisierung des Ortes nichts überliefert, doch lassen die geringen Aufwendungen für Zwecke der Armenpflege (und) gesunde Wohnverhältnisse (…) auf eine relativ günstige Gestaltung wenigstens der Lohnverhältnisse in der Periode des lebhaften Geschäftsganges der Industrie nach 1854 schließen.“ Durch den Aufschwung Anfang der 70er Jahre stiegen, infolge der starken Nachfrage nach Arbeitskräften, auch in Harburg die Löhne, zugleich wurde die Arbeitszeit verkürzt. „Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts waren die Löhne in Harburg hoch, aber auch der Lebensunterhalt teuer.“
Der Tagelohn lag für erwachsene Männer, ab ca. 1884 bis 1892, bei 2,40 Mark, bei Frauen betrug der Lohn gerade mal 1,50 Mark pro Tag. Die Arbeitszeit betrug am Anfang der Industrialisierung, mit Einschluss der Pausen, durchschnittlich 12 Stunden pro Tag. 1900 arbeiteten 600 Männer und 600 Frauen in der „Phoenix.“ Die Arbeitszeit betrug 10 ¼ Stunden pro Tag und Männer sowie Frauen verdienten 2,40 Mark. In der „Gummi-Kamm-Companie“ von Heinrich Traun arbeiteten 600 Männer und nur 12 Frauen. Die Arbeitszeit betrug hier nur 9 Stunden pro Tag und der Lohn lag für Männer bei 3,00 Mark pro Tag, was mehr als in der „Phoenix“ war. Frauen verdienten aber weniger, nur 2,00 Mark pro Tag. Dafür waren die Sozialleistungen in der „Gummi-Kamm-Companie“ für diese Zeit besonders gut.
Die Sozialgesetzgebung des Reichstages begann 1883 mit der Krankenversicherung. Darauf folgten 1884 die Unfallversicherung und 1889 die Invaliditäts- und Altersversicherung. Im Vergleich dazu, gehörten in dem Betrieb von H.C. Meyer und Traun bereits 1875 die Pensions-, Witwen- und Krankenkassen zu den Wohlfahrsteinrichtungen der Firma.
In der Ölfabrik von Thörl arbeiteten 1900 nur 284 Männer, keine Frauen. Sie verdienten, bei einem Arbeitstag von 8 bis 10 Stunden einen Lohn von 3,30 Mark pro Tag. In der „Stock-Fabrik“ H.C. Meyer sah es ähnlich aus. Dort arbeiteten 453 Männer 9 Stunden für einen Lohn von 3,50 Mark pro Tag. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Arbeitsbedingungen, lange Arbeitszeit und wenig Lohn, in der „Phoenix“ besonders schlecht waren. Besser ging es den Arbeitern in den Firmen von Traun und Meyer. Trotzdem waren die Löhne zu gering, was sich an den Lebenshaltungskosten feststellen lässt.
Die Kosten für Luxuslebensmittel in Harburg, betrugen 1873 für „ein Pfund gute Butter 12-13 Groschen, Schmalz 6 Groschen, Hammelkeule 5 Groschen, Hamburger Syrup 3 Groschen.“ Diese Lebensmittel konnte sich ein normaler Arbeiter so gut wie nie leisten.
Für den im dauernden Abhängigkeitsverhältnis lebenden Industriearbeiter, gab es kaum einen Weg zur Selbständigkeit. Allerdings entwickelte sich innerhalb der Arbeiterschaft selbst eine Art Hierarchie. Die sich in gehobener Stellung befindenden Arbeiter bildeten einen Teil des neuen Mittelstandes am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Industrie veranlasste die Bildung einer breiten sozialen Unterschicht und brauchte gleichzeitig ein vermittelndes Glied zwischen jener und der Führungsgruppe. Es entstand ein Beamtentum in der Abhängigkeit der Industrie. Um 1900 kam es zur Ausdehnung dieser industriellen Mittelschicht, dem Beamtentum, einem Teil des Handwerks und dem Kleinhandel. Das Einkommen dieser Schicht lag über 3000 Mark im Jahr. Im Vergleich dazu lagen die hohen Löhne, im Jahr 1894 in Harburg, bei 30500 bis 100000 Mark. Es gab 1894 25 Personen die so viel Geld in Harburg verdienten.